Zurzeit macht eine Geschichte über Bundesrat Alain Berset die Runde. Dieser sei von einer Frau erpresst worden. Manche Medien spekulieren, ob Berset mit der Frau eine Affäre hatte. Laut Journalistenkodex und Medienrecht ist das ein klares Foul – manche Journalist*innen scheint das aber nicht zu interessieren.
Ihren Ausgang nahm die Geschichte in der «Weltwoche». Der Autor Christoph Mörgeli spekuliert dort wild über mögliche Hintergründe der Erpressung.
Die #Weltwoche köchelt eine unappetitliche Story, die in jeder MAZ-Prüfung durchfallen würde.
„Offenbar verfängliche Fotos“
„Ob allenfalls Geld floss, ist nicht bekannt“
„Hat sich Berset erpressbar gemacht?“
„möglicherweise nicht vollumfänglich handlungsfähig“#Journalismus2020— Sandro Brotz (@SandroBrotz) November 21, 2020
Gerüchte verbreiten ist für Journalist*innen grundsätzlich ein No-Go. Der Presserat hält in verschiedenen Urteilen fest, dass es nicht genügt, Gerüchte als solche zu kennzeichnen und zu publizieren. Denn Ziffer 1 des Journalistenkodex (Wahrheitspflicht) erfordert eine vertiefte Recherche und Belege für die vorgebrachten Tatsachendarstellungen.
Nach dem «Weltwoche»-Artikel durfte also erwartet werden, dass andere Medien sorgfältiger mit der Geschichte umgehen. Es zeigte sich jedoch: Dem war nicht so.
Die «SonntagsZeitung» griff die Geschichte prominent auf ihrer Titelseite auf: «Frau erpresste Berset mit Fotos». Soweit so korrekt. Denn die «SonntagsZeitung» verfügt über den Strafbefehl gegen die Frau und kann daraus einige Sachverhalte ableiten.
Was zwischen Berset und der Frau geschah – ausser des Erpressungsversuchs –, geht aus dem Strafbefehl offenbar nicht hervor. Das hindert die Journalisten jedoch nicht daran zu spekulieren, «dass Berset damals eine Affäre hatte». Hier verlassen sie die Spur der gerechtfertigten Berichterstattung.
Online wurde der Beitrag übrigens bereits am Sonntag auf tagesanzeiger.ch korrigiert. Die «Affäre» tauchte plötzlich nicht mehr im Lead auf.
Bild links: gestern / Bild rechts: heute.
Solche peinliche Spekulationen inkl. Korrektur (welche im Internetzeitalter lächerlich sind) vernichten ganz viel Glaubwürdigkeit, @tagesanzeiger. Erst recht, wenn man sich noch immer „Qualitätszeitung“ nennen möchte. #Medienförderung pic.twitter.com/ZBlBUYqJn5
— Jolanda Spiess-Hegglin (@JolandaSpiess) November 22, 2020
«20 Minuten» und «Blick» fragten sich ebenfalls in ihrer Berichterstattung, ob eine Affäre stattgefunden habe. Bersets Anwalt hält im «Blick» dagegen: «Es gibt keine verfänglichen Bilder und damit auch keine Geri-Müller-Geschichte.»
Dass sich Berset, respektive seine Rechtsvertreter und Kommunikationsverantwortlichen gegen solche Vorwürfe wehren müssen, ist bereits fragwürdig. Erstens sind es reine Spekulationen, zweitens ist das Privatleben – in diesem Fall die Intimsphäre – von Berset ganz sicher nicht von öffentlichem Interesse.
Das private Verhalten ist beispielsweise dann von öffentlichem Interesse, wenn es die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausübung eines politischen Amtes tangiert. Das haben zahlreiche Gerichte und auch der Presserat vielfach so bestätigt.
Zum Beispiel im Fall Lucrezia Meier-Schatz (ehem. CVP-Nationalrätin), deren Mann 2001 im Zürcher Rotlichtmilieu für Schlagzeilen sorgte. Der Presserat wurde damals gegen den «SonntagsBlick» aktiv und stellte eine Verletzung von Ziffer 7 (Schutz der Privatssphäre) fest. Er hielt fest:
«Auch Personen des öffentlichen Lebens haben Anspruch auf Respektierung ihrer Privat- und Intimsphäre. Gewisse Eingriffe müssen sie sich dann gefallen lassen, wenn ein direkter Zusammenhang zu ihrer Funktion in der Öffentlichkeit besteht, sofern es anderweitig nicht möglich ist, einen Sachverhalt von öffentlichem Interesse dem Publikum zur Kenntnis zu bringen und angemessen zu erklären.»
Des weiteren erwähnt sei der Fall Geri Müller, bei dem der Presserat ebenfalls eine Verletzung von Ziffer 7 festgestellt hat. Die «Schweiz am Sonntag» berichtete 2014 über die sogenannte «Nackt-Selfie-Affäre» ohne begründetes öffentliches Interesse. Der Presserat hielt in seinem Entscheid fest:
«Das Interesse einer grossen Öffentlichkeit ist aber nicht zu verwechseln mit einem öffentlichen Interesse.»
Und:
«Gerüchte und Verdächtigungen können zwar den Ausgangspunkt einer Recherche bilden, sie sind aber gerade bei Berichten über Ermittlungen im Anfangsstadium vor der Publikation besonders kritisch zu überprüfen.»
Zu erwähnen ist auch der Fall Jolanda Spiess-Hegglin, die gerade im August vom Zuger Obergericht in zweiter Instanz erneut Recht erhielt. Dort äussern sich die Richter auch zum öffentlichen Interesse:
«Dass die Klägerin am 24. Dezember 2014 als mutmassliches Opfer einer Schändung erschien, stellt weder ihre moralische Eignung in Frage, noch ist irgendein gewichtiger Zusammenhang zwischen dem möglichen, an ihr begangenen Sexualdelikt und ihren politischen und behördlichen Funktionen erkennbar, für die im Rahmen der demokratischen Kontrolle ein erhöhtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit bestehen würde.»
Die juristische und medienethische Sachlage ist dementsprechend klar. Ob Berset eine Affäre hatte oder nicht, spielt für die Öffentlichkeit keine Rolle, um ihn als Politiker bewerten zu können.
Also, bitte, bitte hört auf zu spekulieren!
Dass es gewisse Medien verstanden haben, zeigt die NZZ. In einem Kommentar schreibt die neue Inlandchefin, es gehe die Schweiz nichts an, «ob der Bundesrat eine Affäre hatte oder nicht».
Die Kollegen vom «Tages-Anzeiger» gehen in der heutigen Ausgabe auch eher vorsichtig mit dem Thema «Affäre» um. Die Produktion liess die Sorgfalt jedoch vermissen. Im Print steht die Spitzmarke «Affäre», was juristisch korrekt sein mag, aufgrund der Mehrdeutigkeit des Begriffs aber doch eher unnötig ist.
(Autor: Jeremias Schulthess, publiziert am: 23.11.2020)