Als die Frau des Pfarrers bemerkte, dass die Polizei öfter vor ihrem Haus patrouillierte, sprach sie ihn darauf an. Er tat so, als wisse er nichts davon. Dass die Polizei-Patrouillen mit einem Medienartikel über ihn zu tun hatten, erzählte er ihr nicht. «Ich habe es ihr erst viel später gesagt. Es hätte sie und unsere Kinder nur unnötig beunruhigt», sagt Martin Dürr, Industriepfarrer aus Basel.
Er spricht mit ruhiger Stimme, während wir im Büro der Pfarrei sitzen und er die unfassbare Geschichte über einen Medienartikel erzählt, der sein Leben veränderte – zumindest vorübergehend. Vor ihm liegt eine Mappe, 10 Zentimeter dick, mit ausgedruckten Facebook-Kommentaren, E-Mails und handgeschriebenen Briefen, die er nach Erscheinen des Artikels erhielt – Hunderte Seiten Hass.
Damals hatte ihn die Angst im Griff, heute mit drei Jahren Abstand kann er über das Geschehene sprechen.
Der Albtraum begann am 20. April 2020, als in der «Basler Zeitung» ein Meinungsartikel über ihn erschien mit dem Titel: «Basler Pfarrer ruft zum Mord an Trump auf». Der BaZ-Journalist rekurrierte darin auf einen Facebook-Eintrag Dürrs, in dem dieser ziemlich verquere Überlegungen über Trump, das Corona-Virus und den Theologen Dietrich Bonhoeffer anstellte.
Der BaZ-Journalist las den Facebook-Beitrag und deutete die provokativen Zeilen in einen Mordaufruf um.
Dürrs Überlegungen gingen zusammengefasst so: In den USA regiert ein «menschenverachtender Tyrann», der es unterlässt, die Bevölkerung wirksam vor einem Virus zu schützen und damit Tausende Menschen sterben lässt. Er fragte in seinem Facebook-Post:
«Wie kann es sein, dass sie [die amerikanische Bevölkerung; Anm. Fairmedia] einen pathologischen Lügner und Narzissten wählten und ihn weiterhin anbeten, als wäre er Gott?
Wann ist der Moment gekommen, einen faschistischen Diktator umzubringen?»
Er schlug einen Bogen zu Bonhoeffer, der sich während der Nazi-Zeit in Deutschland immer wieder mit der Frage des «Tyrannenmords» auseinandersetzte. Bonhoeffer wurde mit dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler in Zusammenhang gebracht und kurz vor Kriegsende von den Nazis hingerichtet.
Im Facebook-Beitrag schrieb Dürr: «Natürlich zögere ich, zum Tyrannenmord aufzurufen.» Es stelle sich grundsätzlich die Frage, «wann Nichtstun die grössere Schuld ist». Diese Frage könne er nicht beantworten, schrieb Dürr weiter in seinem Facebook-Post.
Er rundete seinen Beitrag ab, indem er eine Reihe Oster-Botschaften verkündete und an mehr Menschlichkeit appellierte – der Facebook-Post erschien am Karfreitag.
Der BaZ-Journalist las den Beitrag zehn Tage später und schrieb den Meinungsbeitrag, in welchem er Dürrs Frage «Wann ist der Moment gekommen, einen faschistischen Diktator umzubringen?» in einen Mordaufruf umdeutete.
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Natürlich können Dürrs Aussagen aus dem Facebook-Beitrag kritisiert werden, tatsächlich befinden sich darin problematische Stellen. Die Kritik hätte zum Beispiel wie folgt aufgegriffen werden können: «Pfarrer provoziert mit Aussagen gegen Trump» oder «Pfarrer zieht ‹Tyrannenmord› in Erwägung – was sagt die Kirche dazu?».
Doch einen Mordaufruf in seine Zeilen hineinzulesen, überspannt jegliche Form der Textexegese. Dass Dürr nicht zum Mord aufrufen wollte, hätte der Journalist auch mit einem kurzen Telefonanruf klären können. Der BaZ-Journalist hatte vor der Publikation jedoch keinen Kontakt zu Dürr – obwohl sich die beiden seit Jahren persönlich kannten.
So war Dürr einigermassen überrascht, als ihm ein Bekannter den Online-Artikel in der BaZ auf einmal zusandte.
Der Artikel hatte sogleich ein enormes Echo zur Folge und führte Dürr sehr schnell in die Abgründe der Sozialen Medien. Zuerst breitete sich der Shitstorm in der Leserkommentar-Spalte und in Facebook-Kommentaren aus. Ein Geistlicher, der zum Mord an einem Staatsoberhaupt aufgerufen haben soll, entfachte die Empörung der Lesenden bis ins Unermessliche.
Nationale Medien wie der «Blick» griffen die Geschichte auf. Auch internationale Medien berichteten über den angeblichen Mordaufruf. Dürr erhielt stündlich neue Anfragen für Interviews.
Gleichzeitig drehte der Internet-Mob immer weiter durch. Rechtsnationale Blogger aus Deutschland luden Videos von sich hoch, in denen sie über Dürr herzogen. AfD-Kreise und Trump-Fans entluden ihre Wut über den Pfarrer in den Kommentarspalten.
Manche stellten eine Verbindung zum QAnon-Narrativ her, bei dem es darum geht, dass «die Eliten» Kinder missbrauchen würden. Trump galt in der Szene als Kämpfer gegen diese Eliten. Dass nun ein Pfarrer gegen Trump Stimmung machte, passte für die Verschwörungstheoretiker perfekt in dieses Narrativ.
In den Tagen nach dem Erscheinen des BaZ-Artikels erhielt Dürr Briefe an seine Privatadresse – einzelne auch ohne Briefmarken, die ihm in den Briefkasten gelegt wurden. Einmal sollen zwei junge Männer im Vorbeigehen an seinem Haus gesagt haben: «Hier wohnt der Killer-Pfarrer!»
Nach den ersten Morddrohungen kontaktierte er die Polizei, die nun vermehrt um sein Haus patroullierte.
Seine Angst nahm in dieser Zeit paranoide Züge an. Er erinnert sich, wie ein weisser Lieferwagen ohne Kennzeichen vor seinem Büro parkierte und er einen Bogen darum machte, aus Angst, jemand könnte darin auf ihn warten, ihn mitnehmen und «was weiss ich mit mir machen». Personen, die ihm auf der Strasse länger als zwei Sekunden in die Augen blickten, waren ihm verdächtig. «Völlig irrational», sei dies gewesen, wenn er heute darüber nachdenke.
Schlimm sei vor allem gewesen, als seine Familie involviert wurde. Auch seine Mutter erhielt anonyme Zuschriften in ihrem Briefkasten. «Das war für mich sehr gravierend.» Der Mutter wurde nur wenige Wochen nach Erscheinen des BaZ-Artikel eine schwere Krebsdiagnose gestellt – zuvor schien die 89-Jährige gesund und munter. Drei Monate nach Erscheinen des Artikel verstarb sie an Krebs.
War es ein Zufall oder bestand aus seiner Sicht ein Zusammenhang zwischen seiner Geschichte und der Krankheit? «Das ist schwer zu sagen. Vielleicht wäre ihre Krankheit auch so ausgebrochen. Für mich ist klar, dass ihr die Geschichte grosse Bauchschmerzen bereitete und ihrem gesundheitlichen Zustand sicher nicht half», sagt Dürr heute.
Was dem Pfarrer noch länger zu schaffen machte, waren die juristischen Verfahren, die aufgrund des Artikels gegen ihn eingereicht wurden. Mehrere Personen hatten bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen ihn erstattet. Die Staatsanwaltschaft leitete eine Voruntersuchung ein wegen Aufruf zu Gewalt und Verbrechen.
Der juristische Höhepunkt wurde erreicht, als die Bundesanwaltschaft eine Voruntersuchung gegen ihn einleitete wegen «Beleidigung eines anderen Staates». Dieser Straftatbestand wird laut Gesetz nur verfolgt, wenn ein anderer Staat dies ersucht und der Bundesrat eine Ermächtigung erteilt. Das war bei Dürrs Facebook-Post klar nicht der Fall.
«Auch wenn der Tatbestand absurd klang, war es ein beunruhigendes Gefühl, dass die Bundesanwaltschaft gegen mich ermittelte.»
Martin Dürr, Industriepfarrer aus Basel
Warum dieser Sachverhalt dennoch abgeklärt wurde, dazu will die Bundesanwaltschaft heute auf Anfrage von Fairmedia nichts sagen. Tatsächlich ist es so, dass die Bundesanwaltschaft von Amts wegen in alle möglichen Richtungen Abklärungen trifft, wenn sie von einem bestimmten Sachverhalt erfährt. Es ist davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft eines Kantons die Bundesanwaltschaft über den Sachverhalt in Kenntnis setzte und die Bundesanwaltschaft daraufhin mit Abklärungen begann.
Die juristischen Verfahren stellten für Dürr wiederum eine grosse Belastung dar. Auch wenn der Tatbestand absurd klang, sei es ein «beunruhigendes Gefühl» gewesen, dass die Bundesanwaltschaft gegen ihn untersuchte.
Mehr als zwei Jahre nach dem Artikel gab die Bundesanwaltschaft dann Entwarnung. Das Verfahren werde nicht anhand genommen. Die Nichtanhandnahme-Verfügung liegt Fairmedia vor. Darin steht, für einen Aufruf zu Verbrechen oder Gewalt habe es an der nötigen Eindeutigkeit gefehlt, seine Äusserungen hätten «mit guten Gründen auch neutral interpretiert werden» können. Zwar habe Dürr «seine überaus negative Meinung über Donald Trump offen zum Ausdruck» gebracht. Darin einen Mordaufruf zu erblicken, «greift indes zu kurz». Seine aufgeworfene Frage könne nicht als konkrete Aufforderung zur Tötung verstanden werden.
Juristisch war die Sache damit geklärt. Und journalistisch? Dürr entschied sich dafür, nicht gegen die BaZ vorzugehen – weder beim Presserat noch vor einem Gericht. Er befürchtete, dass die Belastung für ihn und seine Familie damit nur noch grösser geworden wäre.
Auf Anfrage von Fairmedia gesteht der Journalist keine Fehler ein. Er sieht in seiner Deutung als «Mordaufruf» keine Fehlinterpretation. Es brauche neben der formaljuristischen Beurteilung eines Falls auch eine ethische Einordnung, schreibt er auf Anfrage. «Sonst ist Journalismus überflüssig.» Von einer Entschuldigung gegenüber Dürr sieht er ab.
«Viele sagten mir: Das ist nach drei Tagen wieder vorbei, ich solle es einfach ignorieren. Aber das ging nicht. Man kann nicht etwas ignorieren, das eine solche Massivität hat.»
Martin Dürr, Industriepfarrer aus Basel
Die BaZ sieht in der damaligen Berichterstattung ebenfalls keine Fehler. Die «redaktionelle Auslegung des kontroversen Facebook-Beitrags» sei «journalistisch vertretbar» gewesen. Insbesondere auch deshalb, weil es sich um einen pointierten Meinungsbeitrag in einem spezifischen Format gehandelt habe, schreibt der Mediensprecher von Tamedia.
Und dass der Journalist Dürr mit dem schweren Vorwurf des Mordaufrufs schriftlich oder in einem Telefongespräch vor der Publikation hätte konfrontieren müssen, lässt der BaZ-Journalist nicht gelten. Er habe Dürr vor Publikation angerufen und ihm die «Arbeitsthese» auf den Telefonbeantworter gesprochen, sagt er heute gegenüber Fairmedia. Gegenüber dem Medienportal «bajour» jedoch gab der Journalist 2020 an, er habe Dürr nicht kontaktiert, nachdem dieser ihn auf Facebook gesperrt habe.
Dürr bestreitet vehement, dass der Journalist ihm eine Nachricht auf dem Telefonbeantworter hinterlassen habe. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er das sicher mitgekriegt, so Dürr.
Im Rückblick erklärt der Pfarrer: «Dass dieser Meinungsbeitrag solche Reaktionen hervorrufen würde, hat mich enorm überrascht. Viele sagten mir: Das ist nach drei Tagen wieder vorbei, ich solle es einfach ignorieren. Aber das ging nicht. Man kann nicht etwas ignorieren, das eine solche Massivität hat.»
Der Hass liess erst nach zwei, drei Monaten nach und die juristischen Verfahren dauerten mehr als zwei Jahre. Heute wird er nur noch selten auf die Geschichte angesprochen.
Er sei extrem vorsichtig geworden, wie er sich öffentlich und gerade auf Sozialen Medien äussere. «Ich überlege jedes Mal sehr genau, ob ich etwas öffentlich schreibe oder nicht und gehe im Zweifelsfall kein Risiko ein – weil es eben nicht nur um mich selbst geht, sondern auch um die Sicherheit meiner Angehörigen.»
Etwas Falsches gesagt, vom Reporter hereingelegt, oder einfach nur im falschen Moment am falschen Ort – es braucht nicht viel um ein «Medienopfer» zu werden. In der Rubrik «Hinter der Schlagzeile» erzählen wir in loser Folge die Geschichten von Menschen, die von Medien an den Pranger gestellt, vorverurteilt oder schlicht unfair behandelt wurden.
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Fairmedia hat Martin Dürr nach dem Erscheinen des Artikels 2020 in medienethischen und medienrechtlichen Fragen beraten.
(Publiziert am 24.8.2023, Jeremias Schulthess)