Im Juni 2023 erschien «Oh Boy – Männlichkeit*en heute». Der Sammelband, in dem sich neunzehn Autor:innen mit Männlichkeit auseinandersetzen, verschwand kurz darauf wieder vom Markt und hinterliess viele Narben. Fairmedia beleuchtet den Shitstorm mehr als ein Jahr danach.
Für die Öffentlichkeit begann alles auf Instagram. Es war Juli 2023 und «Oh Boy» war gerade publiziert worden. Unter den Posts von Verlag und Autor:innen zum Release wurden Kommentare von einem anonymen Account gepostet. Darin meldete sich eine Person, die behauptete, die von einem Autor im Sammelband beschriebene sexuelle Grenzüberschreitung sei ein tatsächlicher Vorfall und sie das tatsächliche weibliche Opfer. Vielmehr noch: Sie will dem Autor des Textes und Mitherausgeber des Buchs gegenüber ausdrücklich kommuniziert haben, dass sie nicht wolle, dass er den Vorfall auf irgendeine Art «benutze».
Einen Monat lang schien sich wenig zu tun, doch dann kam am 15. August der erste Knall. Das Terra-Rossa-Festival und das Literaturhaus Rostock sagten eine geplante Veranstaltung zu «Oh Boy» mit dem Autor des umstrittenen Textes einseitig ab. Ebenfalls betroffen durch diese Absagen war erstmals auch Mitherausgeber:in Donat Blum. In den Instagram-Kommentaren zu den Absage-Posts kam es zu hitzigen Wortgefechten. Auf der einen Seite attackierten zahlreiche Accounts, von anonymen Kollektiven bis hin zu Personen mit Klarnamen, die Herausgeberschaft und den Verlag. Auf der anderen Seite versuchte sich der Autor notdürftig zu erklären und zu verteidigen – und Blum stellte sich hinter das Buch.

Autor zieht sich zurück
Im frenetischen Wirbelsturm fielen immer weitere Begriffe wie Täter-Opfer-Umkehr, Retraumatisierung, Täterschutz und Hexenjagd. Innert kürzester Zeit schien eine sachliche Diskussion rund um etwaige Grenzüberschreitungen in weite Ferne gerückt zu sein, ganz zu schweigen von produktiven Debatten über Männlichkeit, die das Buch laut Blum habe anstossen sollen. Die Seiten beharrten auf ihren Positionen. Die Aktivist:innen waren sich sicher, dass die Person hinter dem Account tatsächlich eine Betroffene und dass ihr Nein zweimal ignoriert worden sei. Ihr Unmut weitete sich auf Blum und das ganze Buch aus, inklusive der gesamten Autorenschaft.
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Blum und Co. stellten dem entgegen, der Text sei literarisch und beschreibe keinen konkreten Vorfall. Zudem seien wegen der Anonymisierung, mit Ausnahme des Autors, keine Rückschlüsse auf echte Personen möglich. Weiter argumentierten sie, den anonymen Vorwürfen sei zu viel Gewicht gegeben worden. Dennoch kündigte der Autor des Textes an, sich aus dem Projekt zurückzuziehen, auf Lesungen zu verzichten und dem Verlag nahezulegen, in einer künftigen Auflage seinen Beitrag nicht mehr abzudrucken.

Damit hätte die Sache ein Ende nehmen können. Doch es sollte erst der Anfang eines Shitstorms sein, der sich über mehrere Monate hinziehen würde. Die mutmasslich betroffene Frau erhielt zu diesem Zeitpunkt bereits die Unterstützung eines queer-feministischen Aktivist:innen-Kollektivs, mit dessen Aussagen die Rostocker Veranstaltungsabsage teilweise begründet worden waren. Am 17. August wurde auf dem Instagram-Account des Kollektivs ein ausführliches Statement der mutmasslich Betroffenen publiziert, worin diese bekräftigte, dass der Autor sich im Text mit seiner sexuellen Grenzüberschreitung ihr gegenüber auseinandersetze, er gewusst habe, dass sie das nicht wolle und dass sie sehr darunter leide, dass er sich nun damit profiliere.
Am Tag darauf zog der Verlag die Notbremse und nahm das Buch aus dem Verkauf. Die Veröffentlichung des umstrittenen Textes sei «ein Fehler» gewesen, hiess es in der Stellungnahme. Hiermit wurde von Seiten des Verlags gewissermassen bestätigt, dass es eine Betroffene gab und dass der Autor den Verlag bereits vor der Publikation von «Oh Boy» darüber in Kenntnis gesetzt hatte, wie auch über die Forderung der Betroffenen, den Vorfall nicht literarisch zu benutzen. Dennoch habe man einen Weg gesucht, den Text zu publizieren, um sich aus der Täterperspektive mit sexualisierter Übergriffigkeit auseinandersetzen zu können. «Doch dieser Weg erweist sich als nicht richtig. Das ist uns, leider viel zu spät, klar geworden», hiess es aus dem Verlagshaus. Falls es zu einer Neuauflage komme, würde diese ohne den umstrittenen Text erscheinen. Gleichentags distanzierten sich die meisten «Oh Boy»-Autor:innen vom Projekt.

Jedes Detail bietet Zündstoff
Der Shitstorm blieb aber nicht auf die sozialen Medien beschränkt: Auch klassische Medien veröffentlichten Artikel dazu. Am 19. August, einen Tag nach dem Rückzieher des Verlags, erschien ein Artikel bei rbb24, in dem die bisherigen Ereignisse nacherzählt wurden. Offenbar hatte rbb24 mit der Betroffenen gesprochen und liess sie ausführlich zu Wort kommen, während der Autor lediglich indirekt zitiert wurde.
Eine Passage im rbb24-Artikel, die dem Vorfall eine grössere Schwere zuschrieb, wurde später kommentarlos entfernt. Die Gründe dafür blieben unklar. Von der Betroffenen war keine Strafanzeige eingereicht worden, weshalb keine belastbaren Aussagen zum tatsächlichen Vorfall vorlagen. Ob dieser überhaupt strafrechtlich relevant gewesen wäre, blieb offen. Für die Medien war es unter diesen Voraussetzungen äusserst schwierig, zu berichten. Umso schwerer wogen die Reproduktionen der Vorwürfe in Gestalt bewiesener Tatsachen, die sowohl in den sozialen Medien grassierten und in den klassischen Medien teilweise übernommen wurden.

Jedes Detail und jeder Vorwurf, die öffentlich wurden, gossen jedoch neuen Treibstoff in die ohnehin schon lichterloh brennende Debatte, falls diese zu dem Zeitpunkt noch so bezeichnet werden konnte. Am 25. August erschien ein Interview im «Tages-Anzeiger», worin sich Blum auf den Standpunkt stellte, moralisch nichts Falsches gemacht zu haben – was in aktivistischen Kreisen der Kritik an Blum neuen Schub gab. Ebenso veröffentlichten linke Schweizer Medien Artikel, die grösstenteils das Narrativ des aktivistischen Kollektivs übernahmen. «Das Lamm» äusserte scharfe Kritik am Buch und bezeichnete Blum als antifeministisch und sexistisch, die WOZ liess an Blum und «Oh Boy» ebenfalls kein gutes Haar.
Darauf folgte der nächste Knall. Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) hatte am 14. September eine Veranstaltung zu «Oh Boy» geplant, die es absagte. Stattdessen wurden Aktivistinnen auf die Bühne gebeten, die den Autor, das Buch und Blum vor applaudierendem Publikum angriffen. Eine Autorin verlas zudem ein ausführliches Statement der mutmasslich betroffenen Frau, in dem die Vorwürfe wiedergegeben und die Fronten weiter verhärtet wurden. Der Anlass stiess in den sozialen Medien vor allem in aktivistischen Kreisen erneut auf viel Anklang. Gegenstimmen kamen keine zu Wort. Inzwischen wurde die Aufzeichnung des Live-Streams auf dem Youtube-Kanal des ilb auf privat gestellt und ist damit nicht mehr öffentlich zugänglich. Fairmedia liegt eine Kopie vor.

Neben weiteren kritischen Artikeln wurden auch Texte publiziert, die den Umgang mit Blum verurteilten. So kritisierte etwa die «Welt» am 21. September 2023 die ilb-Veranstaltung und das Verhalten anderer involvierter Institutionen. Und im Juli 2024 veröffentlichte die NZZ eine ausführliche Aufarbeitung der Ereignisse rund um den Shitstorm um «Oh Boy». Darin wurde der Autor des betroffenen Textes zitiert: «Ich habe ihr nonverbales Nein sofort akzeptiert und meine Hand zurückgezogen. Es gab weder Zwang noch Gewalt». Doch der Schaden war angerichtet. Der Autor hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und Blum gilt seither in gewissen Kreisen als Persona non grata. An Einnahmen aus dem Projekt «Oh Boy» durch Verkäufe oder Lesungen ist nicht mehr zu denken, da der Verlag den Vertrieb eingestellt hat.
Mehr als ein Jahr nach Release und Rückzug des Buchs ringt Blum immer noch mit dem Niederschlag, der alles kontaminiert zu haben scheint. «Es ging so weit, dass sich Leute, mit denen ich jahrelang befreundet war, von mir abgewandt haben», sagt Blum im Gespräch. Grosse Teile der queer-feministischen Szene hätten die:den non-binären Schriftsteller:in Blum fallengelassen und Veranstalter:innen und Autor:innen hätten sich nicht durch Kontakt zu Blum exponieren wollen. Sie hätten befürchtet, eine «Kontaktschuld» auf sich zu nehmen und selber zum Ziel eines Shitstorms zu werden. «Mein Ruf war done», so Blum. Und: «Für viele ist es offenbar immer noch undenkbar, mich zu einer Kooperation einzuladen.» Nach über 20 Jahren queer-feministischer Arbeit bleibe Blum quasi nur ein Neustart übrig – «bei fast null», wie Blum sagt.

Strategische Kampagne gegen Blum?
Dabei hatte alles gut angefangen. «Wir haben das Buch mit den besten Absichten erarbeitet», erzählt Blum. In der Auseinandersetzung mit Genderthemen aus männlicher Perspektive gebe es «offensichtlich ein gesellschaftliches Vakuum», und daher ein sehr grosses Bedürfnis, Männlichkeit genderkritisch zu betrachten, auch «zwecks der Überwindung von Rape Culture». Das Buch sei denn zunächst auch «sehr breit rezensiert» und «ausserordentlich gut aufgenommen» worden, was für Blum «sehr speziell» gewesen sei, «weil für mich und meine queer-feministische Perspektive auf Geschlechterverhältnisse erstmals in meiner Karriere die Glasdecke viel höher hing».
Dann kamen die Vorwürfe. Die Anschuldigungen seien so vage gehalten worden, dass man sich kaum habe dagegen verteidigen können. «Zumindest nicht, ohne die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu verletzen», ergänzt Blum. Dies sei jedoch nie geschehen. Man habe die Persönlichkeitsrechte der mutmasslich Betroffenen zu jedem Zeitpunkt schützen wollen. Wohl auch deshalb hätten sich die Leute unter der nicht näher beschriebenen Grenzüberschreitung gleich das Schlimmste vorgestellt.

«Nun im Nachhinein weiss ich, dass das anonyme Kollektiv, das vielleicht auch nur aus ein, zwei Personen besteht, die Kampagne strategisch aufgezogen hat», meint Blum und sagt, das grösstenteils nachweisen zu können. «Oh Boy» sei kein «Me too»-Fall, kein systematischer, sexualisierter Machtbissbrauch gewesen, betont Blum. Der Shitstorm sei hingegen «mit so einer grossen Intensität auf uns hereingebrochen, das öffentliche Statement der Betroffenen, der rbb-Artikel, die Absage aus Rostock», so Blum weiter: «Dass ein konstruktiver Beitrag zum Diskurs von unserer Seite her unmöglich geworden war.» Die Kanäle hätten sich gegenseitig verstärkt und so die Annahme gestützt, dass die Vorwürfe verifiziert seien.
«Einschneidende Online-Kampagne»
Nach den Rückzügen des Autors und des Verlags sah sich Blum alleine mit dem Shitstorm konfrontiert. «Ich fühlte mich in eine Ecke gedrängt und konnte die Ungerechtigkeit zeitweise auch psychisch nicht mehr bewältigen», sagt Blum. Alle Säulen, auf denen Blums Existenz aufgebaut gewesen sei, seien zeitgleich angegriffen worden. «Es wurden Veranstaltungen abgesagt, die nichts mit ‹Oh Boy› zu tun hatten. Die von mir gegründete queere Literaturzeitschrift wurde boykottiert. Mir war davor nicht klar, wie einschneidend solch eine Online-Kampagne wirken kann», erinnert sich Blum. Und weiter: «Ich traute mich zeitweise nicht mehr aus dem Haus, hatte in der Öffentlichkeit das Gefühl, dass mich Menschen erkennen könnten und mich alle hassten.»
Aus Blums Sicht erfolgten die Veranstaltungsabsagen, die Distanzierung der Mitautor:innen vom Buch und der Rückzug des Verlags auf Druck der Aktivist:innen hin. Der Stopp des Vertriebes des Buches und das Statement des Verlags, das von vielen als Schuldeingeständnis interpretiert worden sei, sei gegen Blums Willen erfolgt. Das habe aber nichts dazu beigetragen, den Shitstorm abzumildern oder gar zu stoppen: «Kaum war eine Forderung erfüllt, kam die nächste. Völlig egal was wir oder was ich sagte, es wurde gegen uns verwendet», sagt Blum.

In den sozialen Medien fehlen die Leitplanken
«Das war der eigentliche Machtmissbrauch», zeigt sich Blum überzeugt: «Missbrauch der feministischen Solidarität.» Auf deren Kosten Menschen eingeschüchtert und beschämt würden, bis sie daran zerbrächen. Oder man würde so lange in die Ecke gedrängt, bis man «unkontrolliert und emotional» reagiere. In den sozialen Medien «fehle leider jegliches Korrektiv», stellt Blum fest. Instanzen, die Ausgleich schaffen würden und vor allem Wege, die Masse für ihr kollektives Handeln in die Verantwortung zu nehmen. Das Internet vergleicht Blum mit dem «Wilden Westen».
Neben dem persönlich erlittenen Schaden schmerze es Blum vor allem, dass «Oh Boy» nicht zu einem Fortschritt in der Debatte um männliche Schwächen und Übergriffigkeit geführt habe, sondern vielmehr zum Sinnbild ihrer Tabuisierung geworden sei. Es habe vor dem Shitstorm Sinn ergeben, das Buch so zu publizieren, mit dem umstrittenen Text als explizitem Beitrag zur Überwindung von Rape Culture. «Nun wird sich in den nächsten zehn Jahren aber wohl kein Mann im deutschsprachigen Raum mehr trauen, unter Klarnamen über die eigene Übergriffigkeit oder gar Täterschaft zu schreiben», so Blum. Durch diese Tabuisierung werde «der Diskurs blockiert, obwohl eigentlich ihr Gegenteil, die Enttabuisierung, das wichtigste Mittel für Aufklärung und Prävention» sei.

Im Fall Blum hat die Thematisierung eines nicht näher definierten Übergriffs durch den Autor des Textes dazu geführt, dass die Schuld für durch strukturellen Sexismus begünstigte Grenzüberschreitungen zu einem grossen Teil auf Mitherausgeber:in Donat Blum projiziert wurde. Aktivist:innen nahmen in den sozialen Medien und darüber hinaus die Rolle von Ankläger:innen, Richter:innen und Vollzugsbehörden ein, während klassische Medien deren Positionen reproduzierten, obwohl eine unabhängige Verifizierung der Vorwürfe gar nicht möglich war. Es resultierte ein Shitstorm, der unreflektiert und ohne Leitplanken Donat Blum geschädigt und grosse Teile von Blums Schaffen zerstört hat.
(Publiziert am 5.3.2025; Steve Last)
Etwas Falsches gesagt, vom Reporter hereingelegt, oder einfach nur im falschen Moment am falschen Ort – es braucht nicht viel um ein «Medienopfer» zu werden. In der Rubrik «Hinter der Schlagzeile» erzählen wir in loser Folge die Geschichten von Menschen, die von Medien an den Pranger gestellt, vorverurteilt oder unfair behandelt wurden.