Es ist ein lauer Dienstagabend im April 2006 als Berto Dünki ahnt, dass seine Welt aus den Fugen gerät. Er hat gerade erfahren, dass der «Blick» am nächsten Tag eine Story über ihn publizieren wird und er weiss: Der Artikel wird vernichtend sein.
Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss: Durch die folgende Medienkampagne wird er medial zum «meistgehassten Menschen der Schweiz», seine Firma wird deswegen bankrott gehen und er wird den «Blick» Jahre später erfolgreich verklagen.
In Dünkis Geschäft in Basel, dem «Backwaren Outlet», erzählt der heute 68-Jährige, wie er den Medienskandal von 2006 erlebt hat.
Dünki vermittelt zu jener Zeit Gastfamilien an Behörden. Eltern oder Beiständ:innen beauftragen seine Firma «Time Out» damit, Jugendlichen eine Auszeit zu ermöglichen, damit sie von schwierigen Verhältnissen Abstand nehmen können.
So geschieht es auch mit mehreren Jugendlichen, die in Nordspanien auf einem abgelegenen Hof unterkommen. Dort gerät die Situation jedoch bald aus dem Ruder.
Ein Schweizer Aussteiger ist zuständig für rund fünf Jugendliche mit unterschiedlichen Problemlagen. In seiner Überforderung sperrt er einen gewalttätigen Jugendlichen – mangels Alternativen – für eine Stunde in einen Käfig, der normalerweise als Wildschweinfalle dient.
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Die Jugendlichen nehmen diese Bestrafung zum Anlass, ein Komplott gegen den Pflegevater zu schmieden. Sie flüchten vom Hof und kehren in die Schweiz zurück, um dort von gewalttätigen Erziehungsmethoden – mit Eisenstangen und Käfigen – zu erzählen.
Die Presse nimmt die Geschichte der Jugendlichen ungeprüft auf. Zeitgleich nimmt die spanische Polizei den Pflegevater fest. Für die Medien ist deshalb klar: Die Geschichte der Jugendlichen ist hieb- und stichfest, hier wurden Kinder in einem spanischen «Foltercamp» misshandelt. Die Geschichte verfängt in Schweizer Redaktionen wohl auch deshalb, weil sie so unglaublich ist und für gute Verkaufszahlen sorgt.
Der «Blick» ist federführend dabei, die Sicht der Jugendlichen ungeprüft wiederzugeben, doch auch weitere Schweizer Medien – von der NZZ bis zum «Schweizer Fernsehen» – übernehmen die Story ohne die Fakten zu überprüfen.
«Wissen Sie, wer ich bin?» – «Der meistgehasste Mensch der Schweiz!»
Ein NZZ-Journalist über Berto Dünki
Als Dünki einem Journalisten der NZZ anruft, fragt er: «Wissen Sie, wer ich bin?» Der Journalist antwortet: «Der meistgehasste Mensch der Schweiz!»
Erst ein paar Wochen später, als ein Untersuchungsbericht der Stadt Zürich vorliegt und die Medienschaffenden umfassender recherchieren, beginnt die Geschichte zu drehen: Die Fachleute, die sich vor Ort ein Bild machten, kommen zum Schluss, dass mit Ausnahme der Käfigbestrafung wohl alle Vorwürfe von den Jugendlichen frei erfunden sind.
Sie attestieren der Firma «Time Out», seriös zu arbeiten. Alle Platzierungen von Jugendlichen könnten so beibehalten werden. Eigentlich wäre nun also alles gut für Berto Dünki, doch der Schaden, den die Berichterstattung über das angebliche «Foltercamp» angerichtet hat, ist für ihn nicht wieder gutzumachen.
«Ich habe damals Verluste in Millionenhöhe erlitten», sagt Dünki rückblickend. Für ihn ist klar: Die Hauptschuld dabei tragen der «Blick» und die «Weltwoche».
Also verklagt er den «Blick», der die Geschichte überhaupt ins Rollen gebracht und ihn wie einen Schwerverbrecher mit Gesichtsbalken dargestellt hat. Der «Blick» publizierte auch Bilder vom Haus, in dem Dünki wohnte, was dazu führte, dass er kurzfristig an einem anderen Ort unterkommen musste.
«Die Hälfte meines sozialen Umfelds hat sich von mir abgewandt und ich habe Morddrohungen erhalten.»
Berto Dünki
Den Schaden, den er erlitten hat, sei jedoch nicht nur finanziell gewesen. «Die Hälfte meines sozialen Umfelds hat sich von mir abgewandt, ich habe Morddrohungen erhalten, mir ging es in dieser Zeit richtig schlecht.»
Dünki erinnert sich: «Im Zug traute ich mich nicht, in ein Abteil zu sitzen. Ich sass neben dem WC auf den Einzelsitzen nebenan.» Die Geschichte belastet ihn schwer. Immer wieder sei er zusammengebrochen und habe geweint.
Die gerichtliche Auseinandersetzung gibt ihm etwas Hoffnung auf Gerechtigkeit. Während das Verlagshaus Ringier, das den «Blick» herausgibt, ihm mehrmals ein Vergleichsangebot unterbreitet, erwidert Dünki nur: «Über das Geld reden wir erst am Schluss.»
Das Verfahren zieht sich über sechseinhalb Jahre. 2012 einigen sich die Parteien auf einen Vergleich. Dünki erhält eine Wiedergutmachung von Ringier im sechsstelligen Bereich. Ausserdem muss sich die Boulevardzeitung auf der Frontseite entschuldigen – etwas, das vor ihm nur zwei Personen erreicht haben.
Frontseite des «Blick», 7.2.2012
Mit der Entschuldigung und der Wiedergutmachung ist Dünki in ein neues Leben getreten. Er habe nun seinen Frieden gefunden, sagt er.
Heute beschäftigt ihn die Kampagne nicht mehr gross. Gegenüber Journalist:innen hegt er keinen Groll – jedenfalls wenn sie nicht beim «Blick» arbeiten. «Wenn ich sehe, mit welcher Treffsicherheit Medienschaffende heute arbeiten – beispielsweise bei investigativen Recherchen –, dann hätte ich mir gewünscht, dass damals ebenfalls genauer recherchierte worden wäre.»
Dass so viele Journalist:innen auf einen «Streich» von Jugendlichen hereinfallen würden, das hätte er nicht gedacht. Er hofft, dass sich eine solche Geschichte nicht wiederholt.
(Publiziert am 15.3.2022, Jeremias Schulthess)
Etwas Falsches gesagt, vom Reporter hereingelegt, oder einfach nur im falschen Moment am falschen Ort – es braucht nicht viel um ein «Medienopfer» zu werden. In der Rubrik «Hinter der Schlagzeile» erzählen wir in loser Folge die Geschichten von Menschen, die von Medien an den Pranger gestellt, vorverurteilt oder schlicht unfair behandelt wurden.