Der Ostersonntag, 31. März 2002, ist der Wendepunkt im Leben von Thomas Borer. Der damalige Schweizer Botschafter in Deutschland weilt gerade im sonnigen Mauritius, spielt Golf und geniesst den Indischen Ozean «mit seinen gekräuselten Wellen», wie er es später in seinem Buch «Public Affairs – Bekenntnisse eines Diplomaten» beschreibt.
Er isst gerade zu Mittag, als ein Portier ihm eine Telefonnummer zuschiebt: «You need to call your ministry immediately», sagt er und lässt Borer damit fragend zurück. Was kann an einem Ostersonntag schon so dringend sein, sagt sich der damals 44-jährige Spitzendiplomat.
Als er auf die Nummer zurückruft, meldet sich der persönliche Mitarbeiter von Bundesrat Joseph Deiss. Dieser eröffnet ihm, es gebe da einen «schwierigen» Artikel im «SonntagsBlick» über ihn.
«Es liegt ja auf der Hand, was wir taten. Aber vielleicht haben wir auch nur eine Tangostunde genossen.»
Visagistin, angebliche Liebhaberin Borers
Wenig später erreicht ihn der besagte Artikel per Fax. Borer blickt auf die Frontseite, auf der eine barbusige Dame prangt. Daneben die Headline: «Borer und die nackte Frau.» Er weiss sofort: Das wird nicht gut enden!
Der «SonntagsBlick» schreibt über eine angebliche Affäre von Borer. Eine Visagistin und früheres Aktmodell soll in der Botschaft ein- und ausgegangen sein – offenbar immer dann, wenn seine Frau Shawne Fielding nicht da war. Das Boulevardblatt schreibt zwar, man wisse nicht, was beim Besuch der Visagistin geschehen sei. Die Frau macht im Artikel jedoch klare Andeutungen: «Es liegt ja auf der Hand. Aber vielleicht haben wir auch nur eine Tangostunde genossen. Oder er hat Frauenkleider angezogen, und ich habe ihn als Frau geschminkt.»
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Die Story schlägt in der Schweiz ein wie eine Bombe – und obwohl Borer nach Erscheinen des Artikels sofort alles dementiert, dreht die Geschichte weiter. Es tröpfeln täglich neue angebliche Details ans Licht. «Er zeigte mir die Botschaft und auch die Privat-Räume», titelt der «Blick» weiter. Und Borer soll ihr ein «Küsschen» auf die Wange gedrückt haben. Schliesslich folgt das Geständnis der Visagistin: «Immer, wenn Shawne weg war, hatten wir Sex in der Botschaft.»
In Bern steigt der Druck auf Borer. Sein Arbeitgeber, das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), nimmt der Geschichte keinen Wind aus den Segeln, was Borer später als Illoyalität bezeichnet.
Dabei ist von Anfang an eigentlich klar: Diese Geschichte – ob wahr oder nicht – hat nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Auch Personen des öffentlichen Lebens haben ein Recht auf Privatsphäre – das wissen Schweizer Medienschaffende nach diversen Regelverstössen zu jener Zeit nur zu gut.
«Für die Schweiz ist die Frage, ob Botschafter Borer eine Affäre hat, nicht relevant.»
Uli Sigg, Ringier-Verwaltungsrat im Jahr 2002
Selbst Ringier-Verwaltungsrat Uli Sigg kritisiert den «Blick», indem er sagt: «Für die Schweiz ist die Frage, ob Botschafter Borer eine Affäre hat, nicht relevant.» Dass Borer teilweise die Öffentlichkeit suchte, spiele dabei keine Rolle: «Wenn ein Prominenter dann und wann seine privaten Räume für die Medien öffnet, hat er diese nicht für den Rest seines Lebens an Tisch und Bett eingeladen.»
Bundesrat Joseph Deiss sei eingeknickt, indem er seinen Botschafter zum Rücktritt gedrängt habe. So schildert es Borer im Nachhinein in seinem Buch. Den Grund dafür sieht Borer in der fortgesetzten Berichterstattung der Boulevardpresse. Der Aussenminister habe «vor einer Handvoll Gossenschreibern» kapituliert, resümiert Borer.
Borer gibt seinen Posten in Berlin auf. Die Angelegenheit hat auch private Folgen: Seine Frau Shawne Fielding ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichungen schwanger. Mutmasslich aufgrund von Stress während der Medienkampagne verliert sie das gemeinsame Kind, so beschreibt es Borer.
Im Juli erklärt die Visagistin dann eidesstattlich, sie habe nie mit Borer Sex gehabt. Der «SonntagsBlick» habe ihr 10’000 Euro als Informationshonorar bezahlt. Ausserdem wird klar, dass die Fotos, die sie vor der Botschaft zeigen, manipuliert waren. Das Eingeständnis kommt jedoch zu spät. Für Borer ist der Schaden nicht wieder gutzumachen.
Die Autorin, die die fragliche Geschichte damals schrieb, ist heute Chefredaktorin der «Bild am Sonntag».
In einem aussergerichtlichen Vergleich zahlt Ringier eine siebenstellige Summe an Borer. Dieser hatte zuvor mit einer Klage in den USA gedroht, wo hohe Summen für Schmerzensgeldklagen an der Tagesordnung sind. Immerhin hatte der Ex-Botschafter durch den Medienskandal nicht nur seinen Job, sondern auch sein ungeborenes Kind verloren.
Der «Blick» entschuldigt sich schliesslich bei Borer. Verleger Michael Ringier sagt, es wäre allen am liebsten, wenn diese peinliche Geschichte nie passiert wäre. Das Medienhaus zieht auch personelle Konsequenzen: Der Chefredaktor und stellvertretende Chefredaktor des «SonntagBlick» sowie die Deutschland-Korrespondentin, die die Geschichte ins Rollen brachte, müssen gehen.
Später werden diese Personen zum Teil rehabilitiert. Die Autorin, die die Geschichte mit gekauften Aussagen und zweifelhaftem Bildmaterial publiziert hat, ist heute Chefredaktorin der deutschen «Bild am Sonntag».
Was den Fall Borer besonders auszeichnet, ist die Schnelligkeit und Schlagkraft mit der sich der Betroffene wehrte. Noch am Ostersonntag, als die Geschichte herauskam, ging Borer in der Hauptausgabe der «SRF-Tagesschau» frontal auf den «SonntagsBlick» los. «Einmal mehr versucht der ‹SonntagsBlick› mit ungeheuren Lügen und konstruierten Geschichten meinen Ruf und den Ruf meiner Frau anzugreifen», sagte er per Telefon aus Mauritius zugeschaltet.
«Vermeintliche Niederlagen sind im Rückblick oft die grossen Siege.»
Thomas Borer, 20 Jahre nach der unrühmlichen Medienkampagne
Borer will zum Fall selber nicht Stellung nehmen. Aber ganz allgemein erklärt er gegenüber Fairmedia, dass das Krisenmanagement in dieser Situation entscheidend sei. Es gelte, alle rechtlichen und medialen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die eigene Sicht der Dinge publik zu machen. Deshalb rät er Personen, die heute in ähnliche Situationen kommen: «Falsche Artikel müssen gelöscht werden. Das Internet vergisst sonst nie.»
Damals habe er nach der Devise von Winston Churchill gehandelt: «If you’re going through hell, keep going!» Nach seinem Rücktritt als Botschafter hat sich Borer baldmöglichst selbständig gemacht. «Das war die absolut richtige Entscheidung. Ich bin heute viel glücklicher als damals als Diplomat», so Borer heute.
Das Schicksal habe es gut gemeint mit ihm. «Denn vermeintliche Niederlagen sind im Rückblick oft die grossen Siege.»
(Publiziert am 5.4.2022, Jeremias Schulthess)
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