Laura Bachofner (35) ist Präsidentin des Quartiervereins Ried und Vorstandsmitglied des Ortsverein Niederwangen. Sie lebt mit ihrer Familie im Ried-Quartier, wo das 8-jährige Mädchen lebte, das vergangene Woche tot aufgefunden wurde. Im folgenden Gastbeitrag schildert sie ihre persönlichen Erlebnisse, als das Medieninteresse begann.
Die Fassungslosigkeit im Quartier war enorm, nachdem bekannt wurde, dass ein Mädchen im angrenzenden Wald tot aufgefunden wurde. Das riesige Polizeiaufgebot liess erahnen, dass es sich wohl nicht um einen eindeutigen Unfall gehandelt hatte. Schnell verbreitete sich Angst und Schrecken unter den Anwohnenden.
Die Medienschaffenden strömten ins Quartier, es wurden Bilder von den Haustüren der Angehörigen gemacht oder von Anwohnern, die gerade ihre Anteilnahme aussprachen. Ein Online-Medium schaltet sogar einen Livestream. Zahlreiche Artikel erschienen – ohne wesentlichen Informationsgewinn.
Es wurde sehr deutlich: Die Klicks der Online-Artikel standen im Zentrum, die Sensationsgier wurde bedient – ohne gross Rücksicht auf die vielen kleinen und grossen trauernden Menschen zu nehmen. Die Reporter fuhren mit Fahrrädern durch die Quartiere und begaben sich auf Spielplätze um die Anwohner zu befragen.
Einen wesentlichen Anteil an der Verunsicherung der Anwohner hatten die Reporter, die sich vor Schulschluss beim Schulhaus positionierten, Menschen filmten, die am Fundort oder der Gedenkstätte Anteil nehmen wollten oder die Kamera draufhielten, während Menschen den Grosseltern kondolierten.
Nur weil etwas die Leute interessiert, heisst es noch lange nicht, dass es im öffentlichen Interesse ist. Wenn die Reporter so lange vor der Türe lauern, bis sie es schaffen, Aufnahmen von der Entsiegelung der Wohnung der Grosseltern zu machen, ist dies ein Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen und tangiert auch nicht direkt betroffene Anwohner stark.
Wie würden Sie sich fühlen, wenn Bekannte den Medien intime Details über Sie preisgeben würden?
Wie würden Sie sich fühlen, wenn dies alles vor ihrem Zuhause stattfinden würde? Wenn Sie gerade ihre Enkeltochter oder eine ihnen sehr nahe stehende Person verloren hätten? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Bekannte den Medien intime Details über Sie preisgeben würden? Wenn ihren Nachbarn und ihrem Umfeld nachgestellt wird, bis diese irgendwann ein paar Details erzählen, aus denen dann eine grosse Story gemacht wird?
Es wurden auch Kinder aus dem Umfeld der Verstorbenen angesprochen. Für diese ist bereits der Verlust ihrer Schulkollegin schwer genug zu verarbeiten, die Belagerung durch Medienschaffende macht die Verarbeitung sicher nicht leichter.
Es ist schwierig mit der Ungewissheit direkt vor der Haustür klar zu kommen, die Menschen haben ein nachvollziehbares Redebedürfnis. Das heisst aber nicht, dass es in Ordnung ist, wenn Reporter diesen Zustand ausnutzen, um Anwohnern Details zu entlocken, die anschliessend die ganze Schweiz liest.
Dass auf der anderen Seite der Berichterstattung auch Menschen sind, wie Sie und ich, daran denkt man viel zu selten, wenn man nur die Medienberichte liest.
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Für mich war diese Geschichte persönlich sehr schwierig. Ich habe schon als Kind in diesem Wald gespielt und bin oft mit unserem Hund an der Stelle vorbeigelaufen, wo das tote Mädchen gefunden wurde. Meine Kinder haben ganz in der Nähe eine kleine Asthütte gebaut.
Ich bin Mutter von zwei kleinen Mädchen – natürlich drehten die Gedanken in meinem Kopf tagelang um dieses unverständliche Geschehen und die Flut an Medienberichten. Das Auftreten der Medien hier im Quartier hat sicher nicht dazu beigetragen, das Gedankenkarussell in meinem Kopf zu bremsen.
Es wäre in einem solchen Fall angebrachter, den Anwohnern ein Care-Team zur Seite zu stellen, als sie Reportern auszusetzen, die ihre Sorgen und Ängste so intensiv bewirtschaften, dass dadurch die Verarbeitung der Geschehnisse erschwert wird.
Die privaten Geschichten sollten privat bleiben dürfen, weil wir uns hier alle zuhause fühlen und wieder zur Ruhe kommen wollen.
Viele Anwohnende haben die intensive Berichterstattung als belastend empfunden. Einige Menschen haben taktvollerweise darauf verzichtet Statements abzugeben. Es gibt aber auch jene, die in die Kameras reden und die das Bild in der Berichterstattung prägen.
Die belastbaren Informationen aus den Medienmitteilungen der Polizei und Staatsanwaltschaft oder die Einschätzungen von Fachleuten sollten ausreichen, um die Öffentlichkeit zu informieren und die privaten Geschichten sollten privat bleiben dürfen, weil wir uns hier alle zuhause fühlen und wieder zur Ruhe kommen wollen.
(Gastbeitrag publiziert am 9.2.2022, Autorin: Laura Bachofner)
Berichterstattung zu tragischen Ereignissen: Was erlaubt ist, und was nicht
Das Persönlichkeitsrecht und der Pressekodex geben vor, was bei der Berichterstattung über Unfälle, Unglücksfälle oder Tötungsdelikte erlaubt ist. Die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen – seien dies Opfer, Täter oder Hinterbliebene – sind zu wahren, indem beispielsweise nicht identifizierend berichtet wird, so dass Personen über den engeren Familien- und Bekanntenkreis eine betroffene Person identifizieren können. Diese Regel kann entfallen, wenn es sich um Personen des öffentlichen Lebens handelt.Der Pressekodex sieht aus ethischer Sicht weitere Einschränkungen vor. Es heisst beispielsweise zu Unglücksfällen, dass das Leid der Betroffenen und die Gefühle der Angehörigen zu respektieren sind (Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten, Ziff. 8).
Generell sollten Journalist:innen die Menschenwürde achten (Richtlinie 8.1) und auf sensationelle Darstellungen von Opfern verzichten (Richtlinie 8.3). Weiter heisst es, dass Journalist:innen sich besonders zurückhaltend zeigen «gegenüber Personen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden» (Richtlinie 7.8).
In einer Stellungnahme des Presserats (1/2010) zur Berichterstattung über den Todesfall eines Kindes wird konkretisiert: «Zwar ist auch auf Friedhöfen das Fotografieren erlaubt, doch ist die Privatsphäre von Trauernden und Angehörigen zu schützen, indem – ohne Einwilligung der Betroffenen – auf den Bildern weder Personen noch Gräber besonders hervorgehoben werden sollten.»
Diese Einschränkungen wurden in der Berichterstattung über das Tötungsdelikt in Niederwangen – soweit Fairmedia dies beurteilen kann – grösstenteils eingehalten.
Generell ist es aus der Sicht von Fairmedia jedoch verwerflich, wenn offensichtlich Trauernde und Betroffene – insbesondere Kinder – wiederholt von Reporter:innen angesprochen und fotografiert werden.
(Fairmedia/jes)
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