Nahost-Konflikt und «Dritter Weltkrieg»
Wie sich Falschinformationen Theorien zur Gewalteskalation im Nahost-Konflikt verbreiten, zeigt sich aktuell auf verschiedenen Sozialen Medien. Von angeblichen Inszenierungen («Crisis Actor»-Narrativ), aus dem Kontext gerissenen Videos bis hin zu abstrusen Verschwörungserzählungen, Satanisten würden einen «Dritten Weltkrieg» herbeiführen, ist alles dabei.
Einzelne Medien verbreiteten Falschinformationen ungeprüft weiter, so zum Beispiel die «Welt» aus Deutschland. Sie zeigte in ihrem TV Kanal einen angeblichen «Laienschauspieler», der in verschiedene Rollen schlüpfte, um anti-israelische Narrative zu befördern. Die Bilder des «Laienschauspielers» verbreiteten sich zuvor sehr rege auf verschiedenen Social-Media-Kanälen.
this is ludicrous
German news outlet @welt today spread the Pallywood conspiracy theory, falsely claiming „amateur actors“ are faking scenes in Gaza
here’s the segment with English subtitles going around
i had already debunked two of the claims in this TV segment pic.twitter.com/1mYuNGlaLz
— Matt Binder (@MattBinder) November 4, 2023
Faktenchecker der Nachrichtenagentur Reuters haben dieses «Crises Actor»-Narrativ widerlegt. Es handelte sich nicht wie von der «Welt» und vielen Social-Media-Nutzer:innen angenommen um dieselbe Person, sondern um teilweise verschiedene Personen, die nebeneinander gestellt wurden und eine gewisse Ähnlichkeit hatten. Wie sich das «Crisis Actor»-Narrativ und andere Falschinformationen auch unter Schweizer Journalist:innen verbreitete, hat ein Journalist der «Republik» auf X, ehemals Twitter, festgehalten:
Die letzten Wochen haben mein Vertrauen in journalistische Standards hart erschüttert.
Jeden Tag sehe ich falsche/unbelegte Behauptungen. Von Journis unhinterfragt verbreitet, ohne jedes Gespür für Verantwortungmit paar Beispielen
(Bild: Mein Gesichtsausdruck seit 4 Wochen) pic.twitter.com/MaetRCn6Uc
— Basil Schöni (@basilschoeni.bsky.social) (@basil_schoeni) November 5, 2023
Um zu schauen, welche Narrative aktuell im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt in der Deutschschweiz verbreitet werden, haben wir Telegram-Kanäle untersucht, die einerseits bekannt dafür sind, manipulierte Inhalte zu verbreiten und andererseits einen Bezug zur Deutschschweiz aufweisen.
Der Terrorangriff der Hamas sowie die Vergeltungsschläge Israels hatten in diesen Kanälen Hochkonjunktur – neben den wiederkehrenden Themen wie Impfung oder einem Verschwörungs-Influencer, der in Untersuchungshaft sitzt. Im Gegensatz zu anderen Sozialen Netzwerken, wie X, dominierten auf Telegram jedoch andere Narrative zum Nahost-Konflikt – das «Crisis Actor»-Narrativ kam in den untersuchten Telegram-Kanälen interessanterweise so gut wie gar nicht vor.
In einem auf Telegram häufig geteilten Narrativ wird der israelischen Regierung unterstellt, sie hätte im Vorfeld von den Angriffen am 7. Oktober gewusst und diese bewusst zugelassen.
Die Quellen für solche Aussagen sind entweder nicht nachzuvollziehen oder sehr zweifelhaft.
Im Falle dieses Beitrags handelt es sich bei der Quelle um eine Frau, die sich auf die Aussagen eines Rabbis in Israel beruft, der dort «vertrauliche Quellen» habe. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der besagte Rabbi diese Aussage wirklich so gemacht hat und selbst wenn dem so wäre, wäre nicht nachvollziehbar, wer seine vertrauliche Quelle ist.
Auch Daniele Ganser beteiligt sich an der Diskussion über Israel auf Telegram. Er postete einen Link zu einem Interview, in dem ebenfalls bezweifelt wird, dass das israelische Militär und der Geheimdienst nichts von dem Angriff gewusst hätten.
Auch in diesem Video werden keine glaubhaften Belege vorgelegt. Bei sämtlichen getroffenen Aussagen handelt es sich also um reine Spekulation.
Der Link dieses Beitrags führt zu einem Video, in dem behauptet wird, hinter den jüngsten Eskalationen im Nahen Osten stecke ein satanischer Kult, dessen Endziel es sei, die Weltherrschaft an sich zu reissen. Der Autor des Videos ist ein englischer Publizist, der bereits mehr als zwanzig Bücher über verschiedene Verschwörungstheorien verfasst hat. Darunter auch «Children of the Matrix: How an Interdimensional Race has Controlled the World for Thousands of Years-and Still Does».
Über Telegram finden solche Narrative ihren Weg in den deutschsprachigen Raum – auch wenn sie den Erkenntnissen von Fairmedia zufolge bis jetzt noch keinen grossen Anklang fanden.
Vielmehr zirkulierten Verschwörungstheorien von Israels «9/11 und Pearl Harbour», also eine Implikation, dass Israel den Terrorangriff der Hamas wissentlich in Kauf nahm.
Oder die Verschwörungstheorie, dass ein «satanistischer Kult» sowohl die israelische Regierung als auch die Hamas kontrolliere und mittels eines «Dritten Weltkriegs» eine neue Weltordnung herbeiführen wolle. Den entsprechenden Telegram-Post, der ein Video des englischsprachigen Verschwörungstheoretikers David Icke zeigt, haben immerhin 44’000 Personen gesehen.
Einzelne Elemente seiner Erzählung finden sich auch im deutschsprachigen Raum wieder. Auch sie spielen auf einen übergeordnete Macht an, die insgeheim eigene Ziele verfolgt. So postete ein Deutschschweizer Kanal Auszüge aus einem Brief eines angeblichen Freimaurers, demnach es Ziel eines «Dritten Weltkrieges» sei, dass «der Islam (die muslimisch-arabische Welt) und der politische Zionismus (der Staat Israel) sich gegenseitig vernichten» würden. Für die Existenz dieses Briefes sowie die darin geäusserten Theorien gibt es gleichwohl keine Belege.
Das Alternativmedium «Legitim.ch» schreibt wiederum, es gehe um eine «übergeordnete Agenda». Für die «Globalisten» sei der Krieg ein Mittel zum Zweck, «um unbemerkt langfristige Ziele voranzutreiben». Wie häufig bei der Verbreitung solcher Verschwörungstheorien wird vieles unscharf beschrieben, vermischt und es fehlen verlässliche Quellen für die Aussagen, die sich entsprechend als blosse Behauptungen entpuppen.
«Ich weiss die genaue Antwort nicht, aber es könnte sein, dass gewisse höhere Mächte den Angriff ermöglicht haben.»
Nicht verifizierbare Aussage einer Israelin in einem Interview auf Youtube
Die Tatsache, dass es einige Stunden dauerte, bis sich Israel gegen die Terrorangriffe wehrte, gibt Raum für weitere Spekulationen. Ein Interview mit einer Frau, die sich als unabhängige Journalistin ausgibt, streut Zweifel daran, dass die israelischen Geheimdienste angeblich nichts von dem Angriff wussten. Sie greift zu einem rhetorischen Mittel, das sehr häufig verwendet wird, um Verschwörungsnarrative zu befördern: Sie wisse die genaue Antwort nicht, aber es könnte sein, dass gewisse «höhere Mächte» den Terrorangriff «ermöglicht» hätten. Das Video ist auf Youtube zu sehen (die entsprechende Stelle ab 11:20). Für die Spekulationen gibt es keine Belege.
Auch Daniele Ganser postete dieses Interview in seinem Telegram-Kanal und bezieht sich wiederum darauf in einem Interview, das er gegenüber einem deutschen Alternativmedium gab. Ganser wendet das gleiche rhetorische Mittel an. Er sagt, er wisse nicht, ob es stimme, dass die israelische Regierung den Terrorangriff wissentlich in Kauf nahm – und gleichzeitig werweisst er minutenlang über diese These, wobei er nur Argumente aufzählt, die für ebendiese These sprechen (im Video ab 31:35).
Auch auf «Legitim.ch» und «Uncut-News» verbreiten sich diese unbelegten Spekulationen. Andere gehen noch weiter: Dem Israelischen Militär sei befohlen worden, für sieben Stunden nicht einzugreifen und zuzulassen, dass die Zivilisten massakriert würden.
Die Narrative rund um den Nahost-Konflikt zeigen gesamthaft ein breites Spektrum an Fehlinformationen, die in der Tendenz weder einseitig als antisemitisch oder als islamophob eingestuft werden können. Vielmehr ist das Feindbild eine «globale Elite» oder sogenannte «Globalisten», die häufig als Schablone für Menschen mit jüdischer Abstammung dienen. Diese «Elite» ziehe hinter den Kulissen die Fäden – ein Narrativ, das in unterschiedlicher Couleur auch bei anderen Themen greift.
Monatsstatistik Oktober ’23
Kanalentwicklung
+88.72% | GrundrechteJa | 251 |
+62.95% | staatsimpfungen | 1258 |
+31.54% | PascalNajadiNEWS | 14034 |
+14.26% | Heimatkurier | 7642 |
+13.58% | aufrechtbernkanal | 276 |
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Was wir untersuchen
Es ist das Ziel von FairmediaWATCH, die Entwicklung potenzieller Fehlinformationen in der Deutschschweiz zu verfolgen. Da Telegram als Plattform für den Austausch von Fehlinformationen eine zentrale Rolle spielt, werten wir Daten aus Telegram-Kanälen mit Schweiz-Bezug aus. Telegram-Kanäle sind öffentlich und Telegram-Nutzer:innen können ihnen ohne Einschränkung beitreten.
Gemäss einer Mediennutzungs-Analyse (2021) nutzen ca. 600’000 Personen Telegram in der Deutschschweiz mindestens gelegentlich als Messengerdienst. Laut einer Schätzung von SRF tauschen sich davon zwischen 50’000 und 70’000 Nutzer:innen, auf Telegram in «toxischen» Kanälen und Chat-Gruppen aus oder lesen zumindest die Inhalte mit. Ungefähr jede zehnte Person aus der Deutschschweiz hat also Telegram auf dem Handy installiert und etwa jede hundertste nutzt das den Messenger-Dienst um «toxische» Inhalte zu konsumieren oder zu teilen.
Im Oktober 2023 wurden 210 Kanäle untersucht, in denen insgesamt 24’469 Beiträge publiziert wurden, welche 1’154’912 Nutzer-Reaktionen und insgesamt 136’221’565 Ansichten (Views) aufwiesen.
Wir messen in regelmässigen Abständen, welche Beiträge am meisten Personen erreichen, am meisten geteilt werden und am meisten Reaktionen erzeugen (Darstellung oben). Zudem beobachten wir die Subscriber-Zahlen der einzelnen Kanäle und berichten darüber, welche Kanäle am stärksten wachsen.
Ursprünglich basierte unsere Untersuchung auf einer Liste von rund 20 Kanälen, die dafür bekannt sind, falsche oder zumindest fragwürdige Informationen zu verbreiten. Diese Liste wurde dann mittels eines „Snowballing“-Verfahrens erweitert. Dabei schauen wir, welche anderen Kanäle in den von uns beobachteten Kanälen regelmässig erwähnt oder geteilt werden. Anschliessend überprüfen wir stichprobenartig die Qualität der darin veröffentlichten Informationen und ob der Kanal einen relevanten Bezug zur Schweiz hat. Basierend auf diesen Erkenntnissen entscheiden wir über eine Aufnahme in unsere Beobachtungsliste und erweitern diese so fortlaufend.
(Publiziert am 8.11.2023, Tobias König und Jeremias Schulthess)