In Verschwörerkreisen verbreitet sich ein Video, in dem behauptet wird, dass ein Angriff auf die Landbevölkerung drohe. Dabei wird ohne belastbare Erkenntnisse eine Bedrohungskulisse konstruiert.
Am 18. und 19. Januar erschienen bei «Hoch2TV» und auf der Webseite des «Verein Wir» Inhalte zu «mysteriösen Fäden». Beide Organisationen sind dem verschwörungsideologischen Milieu zuzuordnen. Das Kernstück der Inhalte bildet ein 46-minütiges Video, in dem «Hoch2TV» Moderatorin Regina Castelberg mit «Verein Wir»-Präsident Christian Oesch und Chemiker Hansjörg Grether über das Thema spricht.
Während die ersten mutmasslichen Funde der «mysteriösen Fäden» auf den Oktober 2022 zurückgehen sollen, geben Oesch und Grether nun an, dass eine chemische Untersuchung von Proben dieser Fäden aus der Schweiz neue Erkenntnisse offenbart habe, die auf eine Bedrohung schliessen lassen sollen. Oesch spekuliert im weiteren Verlauf, dass es sich bei den Fäden um Trägersysteme für Chemikalien handeln könnte, mit denen die Landbevölkerung vergiftet und in die sogenannten 15-Minuten-Städte (hier erklärt bei «Watson») getrieben werden soll. Dort solle sie dann in «digitale Gefängnisse» gesperrt werden.
Verbreitung des Videos
Die Inhalte verbreiten sich rasant. Der Post mit dem Video wurde inzwischen über 100’000-mal auf Telegram gesehen und war gemäss unserem Telegram-Monitoring einer der meistgesehenen in einschlägigen Kanälen in der Kalenderwoche 3 (2025). Auf YouTube hat das Video über 20’000 Views und ist damit eines der meistbeachteten auf dem Kanal von «Hoch2TV».
Es besteht also ein Risiko, dass diese Inhalte unhinterfragt geteilt werden und sich Personen daran erschrecken. Ebenso könnten Personen dem Aufruf des «Verein Wir» folgen und die Behörden mit Anfragen zu dieser mutmasslichen Bedrohung eindecken. Aus diesem Grund haben wir uns bei Fairmedia entschieden, das Thema im Rahmen unseres Anti-Desinformations-Projekts FairmediaWATCH genauer zu untersuchen.
Keine plausible Bedrohung
Vorweg eine Zusammenfassung unserer Erkenntnisse: Eine plausible Bedrohung für die Bevölkerung lässt sich aus diesem Video nicht nachvollziehen. Es wird von Anfang an mit der Ungewissheit gearbeitet, was diese Fäden nun genau sind. Dann werden höchst spekulative Verbindungen zu realen Patenten und verschwörungstheoretischen Ideen gemacht, alles vor dem Hintergrund (und ohne Beweise dafür), dass ein böswilliger Akteur dahintersteckt. Und auch die für Laien nicht nachvollziehbare chemische Untersuchung der Fäden hält bei genauerer Betrachtung nicht stand, wie uns Prof. Dr. Daniel Häussinger, Titularprofessor für analytische Chemie an der Universität Basel, erklärt.
Inhalt des Videos
Doch zunächst zum Video. Anfangs wird ein Clip vom Oktober 2022 eingespielt, in dem eine Person den Fund der «mysteriösen Fäden» dokumentiert, unterlegt mit dramatischer Musik. Die Person schliesst Spinnenfäden aus und bezeichnet den Fund unter anderem als «abartig», «nicht normal» und «so krank».
Der Ton ist gesetzt: Es muss sich um etwas Neues und Bedrohliches handeln. Aufgrund welcher Fakten und Überlegungen Spinnenfäden ausgeschlossen werden, ist dem Clip nicht zu entnehmen. Tatsächlich ist es durchaus möglich, dass es sich beim Fund um Fäden von Baldachinspinnen handelt, die genau zu der Zeit im Altweibersommer vermehrt ihre Flugfäden spinnen – ein bekanntes und umfangreich dokumentiertes Phänomen.
Zurück im Studio will Castelberg von ihren Gästen wissen, was das für Fäden sind. Statt einer Antwort erzählt Oesch, wie er und seine Frau bei einem Spaziergang ebenfalls diesen Fäden begegnet sind. Dabei bekräftigt er die Schlussfolgerung der Person im zuvor eingespielten Clip: Die Fäden hätten sich anders bewegt, als es eigentliche Spinnenfäden tun. Es müsse also etwas anderes sein. Dieser anekdotische Schluss ist unmöglich zu beweisen oder zu widerlegen; das Publikum muss Oeschs Kenntnissen zur Bewegung von Spinnenfäden vertrauen.
Hohle Fäden als angeblicher Beweis
Weiter erzählt Oesch, dass das SRF seinen Fund als Fäden von Baldachinspinnen abgetan habe und Labore seine Proben nicht untersuchen wollten. Schliesslich habe sich aber doch noch ein Labor im Kanton Bern gefunden, das seine Probe als Nylon identifiziert habe, mutmasslich als Abfallprodukt der Landwirtschaft bei der Verpackung von Siloballen. Woher die Probe stammt und wie sie erhoben wurde, wird nicht sofort klar. Oesch will die Sache aber nicht ruhen lassen: «Wir dachten, da ist mehr dabei», sagt er.
Wieso da mehr dabei sein soll, ergibt sich aus den folgenden Minuten im Video. Oesch berichtet von Recherchen zu Patenten zur Herstellung von Nanoröhrchen im Elektrospin-Verfahren. Sollten sich die Fäden als innen hohl erweisen, sei das der Beweis, dass auf diesen Patenten basierende Technologien in der Schweiz eingesetzt würden. Das ist zwar reine Spekulation, aber für ein Laienpublikum schwer zu widerlegen. Doch selbst wenn das der Fall wäre, liessen sich daraus ohne weitere Informationen keine Rückschlüsse auf Absicht und Zweck ableiten.
Viel wichtiger im Video ist nun, den angeblichen Beweis zu finden und nachzuweisen, dass die Fäden hohl sind. Dabei übernimmt Grether die Hauptrolle und erzählt von einer eigenen chemischen Untersuchung der Probe, die das Labor als Nylon identifiziert habe. Er bedient sich einiger Begriffe aus der Chemie, mit denen Laien wenig anfangen können. In Bezug auf das genaue methodische Vorgehen bleibt er ausgesprochen vage und verlangt dem Publikum völliges Vertrauen in sein (durchaus plausibles) Fachwissen ab – und damit ebenfalls in die nach bisherigem Wissensstand nicht reproduzierbaren Untersuchungen sowie deren mutmassliche Ergebnisse.
«Gefährliche Piktogramme»
Diese Ergebnisse bestätigen angeblich die Befürchtungen von Oesch: die Fäden (oder die Fasern, aus denen sie bestehen – das bleibt unklar) seien innen hohl. Und was noch schlimmer sei: Es handle sich keineswegs um Nylon, sondern um Proteine. Doch damit ist die Eskalation noch nicht am Ende.
Diese aus Proteinen bestehenden Fäden seien mit geringen Mengen weiterer Substanzen gefüllt gewesen, die Grether habe extrahieren und identifizieren können. Diese lägen «im Bereich höchst toxischer Substanzen». Schlage man sie im GHS (Globally Harmonized System – eine internationale Datenbank für Chemikalien) nach, seien diese mit «recht gefährlichen Piktogrammen» versehen.
Laut Grether seien «massive Schäden» bei Kontakt mit diesen Substanzen «nicht von der Hand zu weisen». Ausser Aluminium wird im Video keiner der Stoffe genannt. Die Mengen seien zwar klein, aber «aber wenn das grossflächig verteilt wird, sieht das natürlich ganz anders aus», ist sich Grether sicher.
Damit ist die Drohkulisse perfekt: Es sei ein weit verbreitetes, angeblich neues Phänomen entdeckt worden, das mit toxischen Substanzen in Verbindung gebracht werden könne und somit eine potenzielle Gefahr für die Bevölkerung darstellen soll. Worum es sich bei den Fäden handelt, können auch Oesch und Grether nicht sagen, nur dass sie möglicherweise ein Trägersystem für Chemikalien seien, und hinter ihrem «Einsatz» möglicherweise eine böse Absicht stecke. Dass es sich um ein harmloses Phänomen handeln könnte, scheint ihnen keines Gedankens wert.
Chemieprofessor sieht keine Hinweise auf Gefahr
Doch kann man aus diesen Funden tatsächlich eine potenzielle Bedrohung für die Bevölkerung ableiten? Nein, sagt Chemieprofessor Daniel Häussinger von der Universität Basel. Davon könne «keine Rede sein». Die präsentierten Analysemethoden seien zwar «im Prinzip seriös und zum Teil geeignet, um diese Fäden zu untersuchen». So könne man als festgestellt betrachten, dass Polypeptide (Ketten von Aminosäuren) gefunden wurden, die höchstwahrscheinlich biologischen Ursprungs seien. Jedoch kämen diese auch ausgerechnet in Seide oder seidenähnlichen Fäden vor, wie sie von zahlreichen Spinnen- und Insektenarten produziert würden.
Weiter schliesst Häussinger einen Zusammenhang mit den von Oesch und Grether erwähnten Elektrospin-Patenten aus. Das tut übrigens auch Oesch. Sein Argument ist vielmehr: Wenn diese Patente bereits vor zehn und 20 Jahren existierten, könnte in der Zwischenzeit eine Technologie entwickelt worden sein, die seine Interpretation stütze. Oesch bleibt jedoch jeglichen Beweis dafür schuldig.
Schlussfolgerungen «absolut nicht plausibel»
Und die angeblichen «Ladungen» der Fäden, bei denen es sich um gefährliche Substanzen handeln soll? Laut Häussinger sind die gaschromatografischen Massenspektren viel zu niedrig aufgelöst, um auf spezifische Substanzen schliessen zu können.
Es gibt Hunderte grösstenteils völlig harmlose Chemikalien, die die gleichen Analyseresultate liefern würden. Oesch und Grether picken aber völlig willkürlich einige zum Teil ziemlich toxische Beispiele heraus, um Panik zu verbreiten. Viele der gefundenen Verbindungen könnten auch aus dem Lösungsmittel stammen, das bei der Extraktion benutzt wurde, wodurch die Resultate noch mehr an Aussagekraft verlieren würden – eine Blindprobe zum Vergleich wird im Video nicht präsentiert.
Hinzu komme, dass keine Gedanken an eine mögliche Verunreinigung der Proben bei der Probenentnahme auf freiem Feld verschwendet würden. In den Worten des Professors: «Wenn Sie ein bisschen Zigarettenrauch oder Auspuffgase über die Fasern streichen lassen, erhalten Sie vermutlich ähnliche Resultate». Daraus den Schluss zu ziehen, dass die Fäden mit diesen Chemikalien «geladen» seien, taxiert Häussinger als «höchst unseriös».
Die angeblich bedrohlichen Stoffe seien herbeigeredet und in «keinster Weise» sicher nachgewiesen. Und selbst wenn sie in den Proben vorkämen, könne man ohne Mengen- und Konzentrationsangaben keine Bedrohung daraus konstruieren. Die Schlussfolgerungen, wie sie vom «Verein Wir» bei «Hoch2TV» präsentiert werden, sind für Häussinger «absolut nicht plausibel».
Stellungnahme «Verein Wir»
Wir haben «Hoch2TV» und den «Verein Wir» mit unseren Recherchen konfrontiert. Christian Oesch hält weiterhin daran fest, dass es sich bei den Fäden um ein potenzielles Trägersystem für Gifte handeln könnte, und unterstützt weiterhin den Aufruf des Vereins, die Behörden zu kontaktieren. Er plane zudem, weiterhin Inhalte zum Thema zu veröffentlichen, solange niemand zweifelsfrei nachweise, worum es sich bei den Fäden handle. Zudem erwähnt Oesch in seiner Stellungnahme Strafanträge gegen das UVEK, die nach Angaben des Vereins inzwischen eingereicht wurden.
«Hoch2TV» hat auf unsere Anfrage nicht reagiert.
Fazit: Irreführende Angstmacherei ohne Substanz
Die Schweizer Bevölkerung wird nicht durch mysteriöse Fäden bedroht. Sollten Sie oder Ihre Angehörigen oder Freunde mit diesen Inhalten konfrontiert werden, lassen Sie bitte Vorsicht walten. Das Video baut auf der Basis von angeblich Unbekanntem ein Bedrohungsszenario auf, für das es keine Beweise gibt.
Viele Lücken in der Argumentation werden der Fantasie des Publikums überlassen und es wird mit Fachbegriffen um sich geworfen, die auf Laien eindrücklich wirken mögen. Am Ende dienen sie aber nur dem Zweck, zu verschleiern, dass die Schlussfolgerungen der Autoren in deren Fantasie begründet sind.
(Publiziert am 6.2.2025; Steve Last und Tobias König)