Mitten im Kalten Krieg steht ein hochrangiger Schweizer Offizier vor Gericht, weil er angeblich geheime Dokumente weitergab. Schweizer Politiker und Medien versteigen sich daraufhin in Vorverurteilungen. Später stellt sich heraus, dass Jean-Louis Jeanmaire, der angeklagte Offizier, kaum geheime Unterlagen an die Sowjets weitergegeben haben kann. Doch der Schaden für ihn ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Der Fall zeigt die Geschichte einer beispiellosen Vorverurteilung und was passieren kann, wenn Medienschaffende die vorherrschende Meinung von Politik und Gesellschaft unkritisch übernehmen.
August 1976, Jeanmaire und seine Frau werden verhaftet. Dem Westschweizer Brigadier wurde Spionage für die Sowjets vorgeworfen. Die CIA hatte die Schweiz einige Jahre zuvor über ein Informationsleck informiert. Die Bundespolizei war sich sicher: Jeanmaire ist das Leck.
Nachdem die Verhaftung publik wird, stürzen sich die Medien auf den Fall. Die «Schweizer Illustrierte» schreibt zum Beispiel:
Politiker:innen gingen indes noch weiter. Karl Flubacher, FDP-Nationalrat aus Baselland, verlangte öffentlich die Todesstrafe für Jeanmaire, FDP-Bundesrat Kurt Furgler machte ebenfalls Stimmung vor dem Prozess.
Aus heutiger Sicht scheint es, dass Jeanmaire gerade recht kam, um in einer emotional aufgeladenen Zeit ein Exempel gegen mögliche Landesverräter zu statuieren.
Und so fällte das Divisionsgericht 2 in Lausanne – ohne echte Beweise zur Kenntnis nehmend – ein äusserst hartes Urteil: 18 Jahre Gefängnis wegen Landesverrat, Degradierung und Ausschluss aus der Armee.
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Jeanmaire galt fortan als «Jahrhundert-Verräter». Dabei zeigte sich später, dass die Vorwürfe kaum stimmen konnten. Als in den 1990er Jahren die Akten zum Fall freigegeben wurden, konnten die Historiker Jürg Schoch und Urs Rauber belegen, dass Jeanmaire gar nie Zugang zu wirklich geheimen Dokumenten hatte.
Das Wissen, welches Jeanmaire an einen russischen Kontakt weitergegeben hatte, entsprach den Unterlagen, welche mehr als 1000 Kommandanten bei sich zu Hause herumliegen hatten. Was in Schweizer Privatwohnungen herumliegt, kann schwerlich als hochgeheim gelten und kaum eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellen.
Heute wird der Fall als hysterisches Produkt des Kalten Krieges anzusehen sein und Jeanmaire als ein etwas naives Opfer, das in einem kafkaesken Prozess politisch fertiggemacht wurde. Jeanmaire mag ein patriotischer «Plauderi» gewesen sein, doch kein Landesverräter, der Staatsgeheimnisse weitergab.
Die Medien haben versagt, weil sie die Narrative der Politik und Justiz unkritisch übernahmen.
Und die Rolle der Medien? Sie haben damals zum Teil versagt, weil sie die Narrative der Politik und Justiz unkritisch übernahmen.
Auch der Presserat, der just 1977 gegründet wurde, konnte keine Abhilfe schaffen. Er war nach seiner Gründung in erster Linie eine interne Selbstregulierungsinstanz der Medien, denn er nahm erst ab 1984 Publikumsbeschwerden an.
Es ist auch fraglich, ob sich überhaupt jemand getraut hätte, eine Beschwerde einzureichen wegen Vorverurteilung. Die Schweizer Bevölkerung lebte in der ständigen Angst einer kommunistischen Machtübernahme. Dienstverweigerer wurden ins Gefängnis gesteckt, man jagte «linke Flugblattverteiler» und belästigte und bedrohte kritische Journalisten.
Jean-Louis Jeanmaire starb 1992 kurz nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde – für ihn war der Schaden, der durch die politische und mediale Vorverurteilung entstand, nicht wiedergutzumachen.
(Publiziert 22.2.2022, Michael E. Habicht)
Wie über Gerichtsverfahren berichten?
Journalist:innen sollen der Unschuldsvermutung Rechnung tragen, so steht es im «Journalistenkodex» (Richtlinie 7.4). Viele Medien nennen in ihrer Berichterstattung über laufende Gerichtsverfahren deshalb den Satz: «Es gilt die Unschuldsvermutung.» Auch bei der Namensnennung sollten Journalist:innen zurückhaltend sein.
Einerseits können Medienberichte dazu führen, dass Gerichte unter dem öffentlichen Druck – erzeugt durch mediale Vorverurteilung – ein fehlgeleitetes Urteil fällen. Andererseits: Wenn ein Gericht später zum Schluss kommt, dass die Vorwürfe falsch seien, bleiben die durch die Medien verbreiteten Vorwürfe in der Regel doch an der Person haften.
Der im deutschsprachigen Raum wohl bekannteste Fall in dieser Hinsicht betraf Jörg Kachelmann. Nachdem die Staatsanwaltschaft schwere Vorwürfe gegen ihn erhob, fand in den Medien eine regelrechte Hetzjagd und Vorverurteilung gegen ihn statt. Am Ende stellten sich die Vorwürfe als falsch heraus – was die Öffentlichkeit jedoch nicht mehr gross interessierte. (jes)
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Einmal etwas Falsches gesagt, vom Reporter hereingelegt, oder einfach nur im falschen Moment am falschen Ort – es braucht nicht viel um ein «Medienopfer» zu werden. In der Rubrik «Hinter der Schlagzeile» erzählen wir in loser Folge die Geschichten von Menschen, die von Medien an den Pranger gestellt, vorverurteilt oder schlicht unfair behandelt wurden.